Automobilindustrie: Mit Allianzen auf die „Schatzinsel“
Für Dieter Becker, Leiter des Bereichs Automotive Practice bei der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft KPMG, sind Allianzen mit sinnvoll ausgewählten Partnern aus der Auto- und Zulieferindustrie für Automobilhersteller sogar „die geheime Karte, die zur Schatzinsel führt“. Die mutig scheinende These resultiert aus der schlichten Erkenntnis, dass selbst die Besten der Branche die Herausforderungen von Elektromobilität, Digitalisierung, Vernetzung und zusätzlichen Mobilitätsangeboten über das bisherige Kerngeschäft hinaus mit eigenen Kräften nicht werden finanzieren können. Allein VW wird bis 2023 rund 44 Milliarden Euro in die Elektromobilität investieren. Weitere vier Milliarden Euro fließen in die Digitalisierung von Verwaltung und Produktion, eine weitere Milliarde in die Batteriezellenfertigung im niedersächsischen Salzgitter.
Neben den Investitionen sieht IfA-Chef Reindl in einzelnen Entwicklungsfeldern hohe Investitionsrisiken. So seien beim autonomen Fahren noch technische, rechtliche und ethische Hürden zu nehmen. Handlungsbedarf sieht der Wissenschaftler auch bei vielen neuen Mobilitätskonzepten. Vielfach stünde die Klärung unternehmerischer Ökosysteme, deren Steuerung sowie die Kundenschnittstellen noch aus. Die Digitalisierung von Produkt- und Dienstleistungen sei ein stetiger Prozess, der laufend hohe Zukunftsinvestitionen erfordere. „Bei alternativen Antrieben ist zwar die schwerpunktmäßige Ausrichtung auf den Elektroantrieb (gemeint ist der batterielektrische Antrieb – die Redaktion) weit vorangeschritten“, stellt Reindl fest. „Allerdings sind auch die Brennstoffzelle und der Antrieb mit synthetischen Kraftstoffen weiter im Gespräch.“ Das alles kostet viel Geld.
Zusätzlich herausfordernd wird die Situation für die Unternehmen dadurch, dass in den eigenen Reihen oft die Kompetenzen fehlen, um die Entwicklung und Umsetzung der Megatrends schnell und effektiv voranzutreiben. Deshalb suchen sie ihr Heil nicht nur in Kooperationen mit unmittelbaren Wettbewerbern, sondern auch in zeitlich begrenzten Allianzen mit ausgesuchten Spezialisten. Dies gilt besonders für den Software-Bereich. Die Notwendigkeit zur gemeinsamen Finanzierung zukunftsgerichteter Vorhaben, die Senkung und Verteilung von Risiken sowie der Aufbau und die Bündelung von spezifischem Know-how sind nach Überzeugung Reindls die Treiber künftiger Kooperationen und Fusionen.
Und so finden plötzlich Marken zusammen, die eigentlich im harten Wettbewerb gegen einander stehen: VW und Ford zum Beispiel, BMW und Daimler, Renault und Nissan, General Motors und Honda oder Fiat Chrysler und Jaguar Land Rover.
Wie andere Automobilunternehmen setzt auch BMW bei der Bewältigung der Zukunftsthemen auf ein breit aufgestelltes Finanzierungs- und Kompetenznetzwerk. Gemeinsam mit Daimler riefen die Münchner die Joint Ventures Charge Now, Park Now, Free Now, Reach Now und Share Now ins Leben. Ihre Aufgaben: Ausbau der Ladenetz-Infrastruktur für Elektroautos, eine intelligente Verknüpfung des öffentlichen Nahverkehrs mit anderen Mobilitätsanbietern sowie die Weiterentwicklung von Shared Mobility Services wie Drive Now und von Mobilitätsdiensten per App. Darüber hinaus kooperiert BMW bei der Entwicklung autonom fahrender Automobile mit dem Chiphersteller Intel, dem Kameratechnik-Spezialisten Mobileye, den Zulieferern Magna, Delphi und Continental sowie mit Fiat Chrysler.
Hinter dem Namen Ionity steht ein Joint Venture, das BMW gemeinsam mit Daimler, Ford, VW, den Mineralölgesellschaften OMV und Shell sowie dem Raststätten-Unternehmen Tank & Rast betreibt. Sein Ziel: Bis zum kommenden Jahr sollen etwa 400 Ladestationen entlang der europäischen Hauptverkehrsadern bereitstehen. Deren Netz soll so engmaschig sein, dass mit dem Elektroauto selbst lange Strecken ohne lange Zwangsaufenthalte zurückgelegt werden können.
Währenddessen setzen Fiat Chrysler und Jaguar Land Rover beim autonomen Fahren auf die Kompetenz von Waymo, einer Gesellschaft der Google-Tochter Alphabet. Mit einer Flotte von mehreren tausend Elektro-Vans und -SUV der beiden Hersteller erprobt der Roboter-Taxisdienst sein Geschäftsmodell auf Alltagstauglichkeit. In seiner Heimatstadt Phoenix tut sich der Spin-off noch schwer, weil viele dem Taxi ohne Fahrer nicht trauen.
Nach Einschätzung von Prof. Reindl machen die Allianzen sowohl mit Wettbewerbern als auch mit Branchenfremden durchaus Sinn: „Geht es vorwiegend um den Aufbau von spezifischem Know-how, sind sicherlich verstärkt Kooperationen mit branchenfremden Unternehmen oder deren Übernahme anzustreben. Stehen hingegen die Bündelung von Ressourcen, Finanzmitteln und die Risikostreuung im Mittelpunkt, sind Kooperationen mit Branchenunternehmen von Bedeutung.“
Die Gefahr von Debakeln wie bei den Fusionen Daimler/Chrysler oder BMW/Rover sieht Reindl bei den aktuellen Allianzen eher nicht. Im Gegensatz zu früher gehe es heute nicht ausschließlich um die Unternehmensgröße, sondern vielmehr um den Aufbau von Kompetenzen. Grundsätzlich benötigen Automobilhersteller laut Reindl aber auch eine neue Dienstleistungskultur, schlagkräftige und flexible Unternehmenseinheiten sowie einen langen Atem, um ihre Zukunft erfolgreich zu gestalten. „Die Umorientierung im Leistungsportfolio kann meines Erachtens nur gelingen, wenn so genannte Start-up-Kulturen Einzug in die Unternehmensorganisation halten“, betont der Hochschulprofessor gegenüber unserer Redaktion.
Wie viel Zeit bleibt den Unternehmen für die Transformation? „Wenig“, antwortet Reindl. Auch wenn viele Unternehmen bereits in der Lage seien, vollständige Leistungsportfolios am Markt anzubieten, seien sie damit betriebswirtschaftlich nicht immer erfolgreich. Siehe Uber. Insofern könne es sich möglicherweise sogar als richtig erweisen, in einzelnen Leistungsbereichen die Strategie des Followers zu verfolgen. Damit könne man Fehler vermeiden, die andere bereits gemacht und teuer bezahlt haben. (ampnet/rs)
Veröffentlicht am 14.06.2019