Pleite oder Innovation: Automobilzulieferer am Scheideweg
Corona, Brexit, geringe Fertigungstiefen beim Elektroauto, Digitalisierung, Überkapazitäten, schwächelnde Märkte – vor allem im Ausland außer China – und der Kostendruck der Automobilhersteller beuteln die Zuliefererbranche, die in Deutschland gut 300.000 Menschen beschäftigt und mit rund 220 Milliarden Euro zu den Vor-Corona-Umsatztreibern der Nation zählt. „Von den kleinen und mittelständischen Zulieferern sind viele ernsthaft in ihrer Existenz bedroht“, prophezeit Stefan Bratzel, Chef des Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach. Vier von fünf Zulieferern kommen aus dem Mittelstand. Oft sind die Unternehmen familiengeführt.
Der lange Weg zur Normalität
Nach einer Umfrage des Verbands der Automobilhersteller (VDA) erwarten die Zulieferer in diesem Jahr erhebliche Umsatzeinbrüche. Gut jeder zweite Betrieb geht davon aus, erst 2022 das Vor-Corona-Auslastungsniveau in der Produktion zu erreichen. Continental ist viel skeptischer und spricht vom Jahr 2025. „Wir müssen daher leider auch mit einem weiteren Rückgang bei der Beschäftigung rechnen“, sagt VDA-Präsidentin Hildegard Müller.
Laut Arndt G. Kirchhoff, VDA-Vizepräsident und Vorsitzender des VDA-Mittelstandkreises, hat ein Fünftel der Zulieferer nur noch eine Liquidität für maximal drei Monate. Im Oktober befanden sich über 20 Prozent der Beschäftigten vor allem wegen der angespannten Situation auf den Auslandsmärkten in Kurzarbeit. „Deshalb muss ein erneuter Lockdown unbedingt verhindert werden“, so Kirchhoff. Die Teil-Lockdown im In- und Ausland trüben bereits die Investitionsbereitschaft.
Stellenabbau und Werksschließungen
Die Situation ist dramatisch. Die Hiobsbotschaften reißen nicht ab.
Bei Continental stehen allein in Deutschland 13.000 Stellen zur Disposition. Bei Schäffler sind es europaweit über 4000. Bosch wird sein Werk im schwäbischen Bietigheim-Bissingen im nächsten Jahr schließen. Eberspächer stellt bis 2022 die Produktion von Standheizungen in Esslingen am Neckar ein. Sie soll nach Polen verlagert werden. Die Akkumulatorenfabrik Moll in Bad Staffelstein (Oberfranken) befindet sich im Insolvenzverfahren und sucht nach einem potenziellen Investor.
Ford in Köln hat seinem Zulieferer Faurecia die Zusammenarbeit Knall auf Fall zum April nächsten Jahres aufgekündigt. 18 Jahre lang hatte der Lieferant die Fiesta-Türen außerhalb der eigentlichen Fertigungslinie mit Türhebern, Lautsprechern, Innenverkleidung und anderen Teilen ausgestattet und danach wieder dem Produktionsprozess zugeführt. Da Ford der einzige Kunde ist, droht die Schließung des gesamten Kölner Faurecia-Standorts. Rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wären davon betroffen.
Und so weiter. Und so weiter.
Grohmann hat die Wende geschafft
Noch ist nicht bekannt, ob Tesla-Boss Elon Musk alle 210 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des zur kanadischen ATS Automation Tooling Systems gehörenden Unternehmens ATW in Neuwied weiter beschäftigen wird. Doch mit Blick auf die ehemalige Grohmann Engineering GmbH im gut 100 Kilometer entfernten Prüm gibt man sich in der Stadt am Rhein sehr zuversichtlich.
Vor vier Jahren war Tesla in das Unternehmen in der Eifel eingestiegen. Heute hat der Maschinen- und Anlagenbauer „maßgeblichen Anteil an der Entwicklung, Herstellung und Inbetriebnahme der für die Erstellung des gesamten Konzernproduktportfolios erforderlichen automatisierten Produktionsverfahren und -anlagen“.
1000 Menschen verdienen bei Tesla Grohmann Automation ihren Lebensunterhalt. Nach der Übernahme blieben alle Arbeitsplätze erhalten. Das Unternehmen ist wieder gesund. Umsatz, Auftragseingänge und Beschäftigung liegen auf Rekordniveau.
ATW-Investitionen zahlen sich doch aus
So stellen sich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ATW ihre Zukunft vor. Auftragseinbrüche in Folge der Corona-Pandemie hatten bei dem Anlagenlieferanten, zu dessen Kunden so renommierte Unternehmen wie BMW, VW und Magna zählten, in die roten Zahlen getrieben. Die Umstellung von Fertigungsstrecken für mechanische Bauteile auf die Produktion von Batterien hatte Millionen verschlungen.
Doch nun scheinen sich die Investitionen auszuzahlen. Tesla ist auf Erfolgskurs, und ohne Batterien fahren die Elektroautos von Elon Musk nicht. Der Bedarf wird steigen – nicht zuletzt durch die Inbetriebnahme der Tesla-Gigafactory im brandenburgischen Grünheide. Schon bald sollen dort pro Jahr 500000 Tesla vom Band laufen.
Neue Geschäftsfelder erschließen
„Die kleinen und mittelständischen Betriebe der Zuliefererindustrie müssen aufgrund ihrer oft sehr spezifischen Produkte häufig ein komplett neues Geschäftsfeld entwickeln“, stellte VDA-Chefin Müller auf dem virtuellen VDA-Mittelstandstag vor 270 Branchenvertretern fest – so wie zum Beispiel die Fischer Group in Seebach (Schwarzwald) oder die Boysen Gruppe in Altensteig (Baden-Württemberg).
Das Familienunternehmen Fischer, das 1969 von Hans Fischer als Mechanische Werkstatt Seebach gegründet worden ist, hat sich im Laufe seiner Geschichte „zu einem bedeutenden weltweiten Anbieter von Rohren und Bauteilen aus Edelstahl und Sonderlegierungen entwickelt“. Heute lenken Gründer Hans Fischer, seine Söhne Hans-Peter und Roland sowie Geschäftsführer Björn Weber die Geschicke des Unternehmens mit seinen 2800 Beschäftigten in neun Ländern weltweit. Fischer-Edelstahlrohre finden sich zum Beispiel in Abgas- und Kraftstoffanlagen von Automobilen, in Haushaltsgeräten und Sanitärprodukten.
Abhängigkeit vom Auto verringern
Größter Fischer-Kunde ist die Automobilindustrie. „Aber wir wollen unsere Abhängigkeit vom Auto verringern“, sagt Hans-Peter Fischer. Deshalb entwickelt die „fischer eco solutions“ gemeinsam mit dem Tochterunternehmen „SerEnergy“ modulare Stromerzeugungs-Aggregate mit Reformer-Methanol-Brennstoffzellen. Eingesetzt werden sie zur Stromversorgung von Telekommunikationsanlagen in abgelegenen Regionen, wo sie Dieselgeneratoren ersetzen.
Außerdem entwickelt und testet Fischer die Methanol-Brennstoffzelle zur dezentralen Stromversorgung von Schiffen sowie für den Einsatz in elektrisch betriebenen Bussen, Nutzfahrzeugen und Pkw. Mit der Gründung der „fischer Power Solutions“ erweiterte die Gruppe ihr Leistungsportfolio im vergangenen Jahr um eine zukunftsweisende Energiespeicher-Technologie.
Boysen setzt auf Bewährte und Neues
Boysen will auch in den kommenden Jahren mit der Entwicklung und Fertigung hochleistungsfähiger Abgassysteme und -komponenten für Pkw, Nutzfahrzeuge und „Off-Highway-Anwendungen“ wachsen. Die Grundauslastung der Produktion ist nach den Worten von Geschäftsführer Rolf Geisel bis mindestens 2028 gesichert.
Um die Zukunft von Abgasanlagen für Automobile ist dem Unternehmer trotz des E-Hype nicht bange. Ganz im Gegenteil. Er geht davon aus, dass 2035 weltweit rund 100 Millionen Neufahrzeuge produziert werden, davon 60 Prozent mit Verbrennungsmotoren. Außerdem träumt Geisel davon, dass es „mit Hilfe von Boysen Abgastechnik eines Tages gelingen wird, die Abgase von Verbrennungsmotoren ganz von Schadstoffen zu befreien“ und setzt dabei auf E-Fuels.
Ausgleich für sinkende Verbrenneranteile
Trotzdem will Geisel für sein Unternehmen mit 4600 Beschäftigten an 23 Standorten auch Wachstumspotenziale abseits von Verbrennungsmotoren erschließen. So plant Boysen die Herstellung von stationären Feinfilteranlagen und Energiespeichern. Außerdem beschäftigt sich das Unternehmen mit der Herstellung von Brennstoffzellen und der energiesparenden Produktion von Wasserstoff. Aktuell sucht Boysen für die Bereiche Fertigung und Qualitätswesen im neuen Geschäftsfeld Elektromobilität die „besten Teamplayer“. Mit Batteriegehäusen, Edelstahltanks und Rahmenkonstruktionen will man sinkende Verbrenneranteile ebenfalls ausgleichen.
Preisdruck treibt Hersteller ins Ausland
Eine weitere Herausforderung für Boysen und andere Zulieferer: der Kostendruck, den die Automobilhersteller an ihre Partner weitergeben. „Die Bieterkämpfe werden nahezu im Monatstakt härter“, stellt der Geschäftsführer fest. Wegen des Technologiewandels müssten die Automobilhersteller mehr denn je investieren, allem voran in die E-Mobilität sowie in autonomes und vernetztes Fahren. „Gleichzeitig soll die Rendite gehalten werden, womit der Preisdruck auf uns Zulieferer massiv erhöht wird“, so Geisel. „Ohne Preisreduzierungen auf das laufende Geschäft ist nichts mehr zu gewinnen. Hinzu kommt, dass unsere Angebote nur noch angenommen werden, wenn wir mit Produktionslöhnen in Billiglohnländern kalkulieren.“
Die Folge: Boysen nimmt in diesen Tagen im nordserbischen Subotica sein größtes Auslandswerk in Betrieb. Dort stellen 400 Beschäftigte Komponenten und Abgassysteme für Lkw und Pkw von Audi, BMW und Mercedes-Benz her. In Planung ist eine weitere Produktionsanlage in China, wo die Unternehmensgruppe bereits mit zwei Werken vertreten ist, die nach den Worten von Geisel „einen beachtlichen Teil unseres Gesamtergebnisses erwirtschaften“.
Kanzlerin-Runde mit Spannung erwartet
Mit Spannung blicken die deutschen Automobilzulieferer nun zunächst auf den 17. November, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel zum nächsten, digital geführten Gespräch der Konzertierten Aktion Mobilität eingeladen hat. Arbeitsgruppen sollen dann unter anderem ein marktwirtschaftliches Konzept zur Stärkung des Eigenkapitals insbesondere von Zulieferunternehmen vorstellen.
Derzeit schnürt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ein Unterstützungspaket für die Automobil- und Zuliefererindustrie in Zeiten der Transformation. Es geht dabei um zwei Milliarden Euro in den kommenden Jahren. So will der Minister Digitalisierung, Automatisierung und alternative Antriebe fördern. Altmaier konkretisiert damit die Beschlüsse des Corona-Gipfels vom Juni.
Derweil setzt vor allem die Gewerkschaft IG Metall auf den neuen Beteiligungsfonds Best Owner Group (BOG), der sich an notleidenden Unternehmen beteiligen soll, die auf Komponenten für Verbrennungsmotoren spezialisiert sind und Zukunftsperspektiven haben. An der Spitze des Fonds steht Frank-Jürgen Weise, Ex-Chef der Bundesagentur für Arbeit und ehemaliges Vorstandsmitglied von FAG Kugelfischer. (ampnet/rs)
Veröffentlicht am 09.11.2020
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